Junges Kuba sucht das Weite

Von Lukas Lauber · · 2024/Sep-Okt
© Lukas Lauber

Die Krise im Inselstaat spitzt sich zu: Jugendgewalt, Altersarmut, sinkende Lebenserwartung und Auswanderung sind Folgen der Erosion einst funktionierender Sozialsysteme.

Bilder von Jugendlichen, die mit Knüppeln, Messern, auch Macheten durch die Straßen rennen, sind in Kuba die Ausnahme. Am 8. Juni gingen sie jedoch viral und sorgten für Aufsehen. Rund um das Konzert eines Reggaeton-Stars im Stadtteil Cerro in der Hauptstadt Havanna, lieferten sich zwei Jugendbanden eine offene Konfrontation. Das neue Level an Gewalt bereitet Manuel Cuesta Morúa, Historiker und sozialdemokratischer Oppositioneller in Havanna, Sorgen. „Zwei Verletzte lautete die offizielle Bilanz“, sagt er und fährt fort: „Alarmierend ist, dass Jugendbanden hier, aber auch im Rest der Insel anders als früher nun präsent sind, dass Gewalt und Kriminalität zunehmen“. Dabei gehe es oft um die Vorherrschaft in Territorien oder Beschaffung von Drogen.

Für Cuesta Morúa steht fest: Sowohl ein politischer als auch ein ökonomischer Wandel sind auf der Insel längst überfällig. „Die gravierende ökonomische Krise erodiert die sozialen Systeme und das schlägt sich auch auf die Sozialindikatoren wie Kindersterblichkeit oder Lebenserwartung nieder“, argumentiert er. Sein Fazit: „Wir lateinamerikanisieren uns“.

Der so gern erwähnte Erfolg des präventiven kubanischen Gesundheitssystems gegenüber jenem des großen Nachbarn USA, der die kubanische Ökonomie seit 1961 mit einem ökonomischen Embargo versucht zu strangulieren, ist mittlerweile dahin. Das lässt sich mit offiziellen Daten aus dem statistischen Jahrbuch belegen, demnach stieg die Kindersterblichkeit pro Tausend Lebendgeburten von 3,9 auf 7,7 und die Lebenserwartung sank von 78 Jahren (2012) auf 73 Jahre (2021).

Hoffnungslose Jugend. Die Jugend verlässt die Insel in Scharen. Zwischen November 2021 und Januar 2024 sind allein in den USA laut den Einwanderungsstatistiken rund 600.000 Kubaner:innen angekommen. Ein Exodus, der alle Auswanderungswellen nach der Revolution von 1959 bei weitem in den Schatten und die ökonomische Zukunft des Staates in Frage stellt, sagt Omar Everleny Pérez. Der 64-jährige Ökonom und Analyst leitete bis 2016 das Forschungszentrum der kubanischen Wirtschaft bis er mit seinen Reformvorschlägen in Richtung mehr Privatwirtschaft nach dem vietnamesischen Modell aneckte. „Anders als früher reisen die Menschen heute ohne Rückfahrt-Ticket aus, sie verkaufen alles, was sie haben“, so Everleny Pérez. Mindestens 10.000 US-Dollar brauchen Kubaner:innen für die Reise über Nicaragua, Honduras, Guatemala und Mexiko in die USA seinen Berechnungen zufolge.

Das ist ein immenser zusätzlicher Aderlass für den latent unter Devisennot leidenden Staat, der derzeit die schlimmste Wirtschaftskrise seit der Revolution von 1959 durchmacht. Everleny Pérez: „Diese Krise stellt die Periodo Especial Anfang der 1990er Jahre in den Schatten. Damals löste sich das sozialistische Lager auf. Heute wandert die Zukunft des Landes, die Jugend, aus“. Denn: Mit jeder qualifizierten Frau, jedem gut ausgebildeten Mann verliere die Insel diejenigen, die sie aus der ökonomischen Krise führen könnten.

Vor allem die Bevölkerungsschicht der 18- bis 40-Jährigen hat die Hoffnung verloren, dass sich mit der derzeitigen politischen Führung etwas ändern könnte. Zu ihnen zählt der 33-jährige William Esperanza, der jeden Abend ein altes verbeulte Sowjet-Automobil durch die Straßen lenkt und nach zahlungskräftigen Tourist:innen Ausschau hält. Die sind deutlich weniger als früher, denn der Tourismus, die Lokomotive der Inselökonomie, hat sich von der Pandemie immer noch nicht erholt. Die Aussichten dafür sind trübe. In einem Land, wo Essen, Benzin, Hygieneprodukte und Medikamente knapp sind, ist unbeschwerter Urlaub alles andere als einfach, meint Analyst Everleny Pérez.

Devisen fehlen. Hinzu kommt, dass Verteter:innen der jüngeren Generation offen die Verhältnisse kritisieren und keinen Hehl daraus machen, sofort auszuwandern, wenn sie ein Visum bekommen würden. „Ich würde überall hingehen, wenn sich die Chance ergibt. Hier habe ich keine“, sagt Esperanza, der Ingenieurwissenschaften studiert hat. Laut ihm denken fast achtzig Prozent seiner Freund:innen dasselbe. Für ihn ist es schwer auszuhalten, dass die derzeitige Regierung von Staatschef Miguel Díaz-Canel nichts dagegen tue: „Die ignoriert die soziale Misere, äußert sich nicht einmal. Das hätte es unter Fidel Castro nie gegeben“, sagt er genervt. „Auseinandersetzung, Dialog, Reformen – Fehlanzeige!“, schiebt er noch hinterher. Auch das sind Gründe für ihn jeden Euro und jeden US-Dollar für die potentielle Ausreise beiseitezulegen.

Genau diese Devisen sind es um die sich in Kuba alles dreht. Der Wechselkurs des Peso nacional, seit der Währungsreform von 2020 die einzige nationale Währung auf der Insel, kennt nur eine Richtung: er verliert an Kaufkraft. Im Jänner dieses Jahres musste für jeden US-Dollar oder Euro exakt 265 Pesos nacionales bezahlt werden, im Juni 2024 waren es in Havanna schon 360 Pesos nacionales, die auf der Straße pro US-Dollar oder Euro bezahlt werden mussten. Demgegenüber steht ein offizieller Wechselkurs für US-Dollar bzw. Euro von 1:120 und 1:128. Alltag in Kuba, der alles andere als neu ist. Die Banken haben schlicht kaum US-Dollar und Euro, um zu wechseln – daher hält der Staat den Kurs künstlich niedrig.

Das Grundproblem ist, dass der zirkulierenden Geldmenge zu wenig Produkte gegenüberstehen. Das sorgt für die Inflation und den permanenten Kaufkraftverlust. Gleichzeitig gibt es eine hohe Nachfrage nach US-Dollar und Euro – nicht nur von Seiten der Auswanderungswilligen.

Die Folge: Das Finanzsystem gerät in permanente Schieflage. Kubas Regierung schafft es nicht, die Schulden zu bedienen. Dadurch ist Kuba nicht kreditwürdig auf dem internationalen Finanzmarkt. Es schrammte in den vergangenen Jahren mehrfach an der Zahlungsunfähigkeit vorbei. Die prekäre Finanzsituation spiegelt sich im mittlerweile chronischen Haushaltsdefizit wider. Das sorgt dafür, dass der Regierung derzeit die Hände gebunden sind, um der am härtesten von der Krise getroffenen Bevölkerungsgruppe zu helfen: den Pensionist:innen.

Kuba

Hauptstadt: Havanna
Fläche: 109.884 km2 (ca. ein Viertel größer als Österreich)
Einwohner:innen: 11,09 Millionen (2022)
Human Development Index (HDI): Rang 83 von 191 (Österreich 25)
BIP pro Kopf: 9.499,6 US-Dollar (2020, Österreich: 56.506 US-Dollar, 2023)
Regierungssystem: Republik mit Einparteiensystem. Staatsoberhaupt, Staatspräsident und Erster Sekretär der Kommunistischen Partei Kubas Miguel Díaz-Canel seit 10. Oktober 2019.

Viele Alte. Deren Zahl wird in den kommenden Jahren von derzeit 26 auf 30 Prozent und mehr steigen. Kuba wird zur ältesten Gesellschaft Lateinamerikas – begünstigt durch die Auswanderung. Schon jetzt ist die kubanische Durchschnittspension von 1.528 Pesos aufgrund der galoppierenden Inflation nichts mehr wert: gerade 2,2 Kilo Bohnen, drei Kilo Schweinefleisch und zwei Halbliterflaschen Speiseöl bekommt man dafür. Zu wenig, um zu überleben. Das sorgt für breite Kritik an der Regierung. „Sie droht ihr letztes bisschen Glaubwürdigkeit zu verspielen“, mahnt Pérez, verweist auf die zunehmenden Proteste und plädiert für Reformen in der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Doch dafür braucht es politischen Willen und Kompetenz. Ob die amtierende Regierung beides hat, wird sich angesichts des Reformdruckes alsbald zeigen.

Lukas Lauber ist deutscher Journalist, der die Insel regelmäßig privat bereist. Da für die journalistische Arbeit in Kuba eine offizielle Akkreditierung nötig ist, die nur selten erteilt wird, schreibt er hin und wieder unter Pseudonym.

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